Das Projekt

Analyse und Instrumentarien zur Beobachtung des Schreibgebrauchs im Deutschen

Aktuelle Tendenzen in der Entwicklung der deutschen Sprache zeigen eine zunehmende Fragmentierung und Individualisierung der Gegenwartssprache. Diese „intrapersonale Mehrsprachigkeit“, die in verschiedenen soziokulturellen Altersgruppen oder auch Milieus zu erkennen ist, schlägt sich in den Bereichen Stil und Grammatik, aber auch in der Orthografie nieder. Kennzeichnend ist die Ausbildung einer Vielfalt orthografisch nicht normgemäßer Besonderheiten (beispielsweise Genitivapostroph) bis zu völliger Vernachlässigung elementarer orthografischer Regeln (Kleinschreibung etwa in E-Mails). Katalysiert wurde der Prozess noch durch die Rechtschreibreform, die im Lauf eines Jahrzehnts mehrere, zum Teil parallel gültige Regelvarianten hervorgebracht hat.

Die Aufsplitterung der Gesellschaft in verschiedene mediale Sprachwelten hat zur Folge, dass sprachliche Wertmaßstäbe, die auch auf einer einheitlichen, integrationsstiftenden Orthografie basieren, immer mehr in Frage gestellt werden. Eine einheitliche Rechtschreibung kann aber als Zeichen eigenständiger kultureller Identität eine wichtige sprachliche, kommunikative und soziale Klammer zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bilden.

Wie immer die Entwicklungen zu werten sein mögen: Rechtschreibgewohnheiten sind ein wichtiger Faktor für die soziale und kulturelle Identifikation und für die Effizienz der öffentlichen und privaten Kommunikation. Es ist deshalb ein hochrangiges nationales Anliegen, ihre Entwicklung zeitnah und mit verlässlichen Methoden zu verfolgen, wobei jedoch derzeit das notwendige Methodeninventar noch nicht zur Verfügung steht.

Unter diesen Bedingungen zielt das Projekt auf die Entwicklung von Instrumentarien für eine umfassende systematische Beobachtung des Schreibgebrauchs im deutschsprachigen Raum auf der Basis der sog. „professionellen Schreiber“, die den Schreibusus der Schreibgemeinschaft heute entscheidend bestimmen, und der entsprechenden Ebene der Textproduktion (primär Zeitungen, Zeitschriften). Darüber hinaus wird aber auch der Schreibgebrauch von Schülern und von - zumeist ebenfalls jugendlichen - Internet-Nutzern beobachtet. Intendiert ist ein umfassendes Monitoring der sprachlichen und gesellschaftlichen Varianz mit Hilfe von extensiven und intensiven korpuslinguistischen Analysen, unterstützt durch innovative sprachtechnologische Methoden.

Das Projekt lässt sich auf Grund seines innovativen Charakters keiner der bisher etablierten Kategorien in den E-Humanities zuordnen, fällt aber gleich aus zwei Gründen in diesen Forschungsbereich. Auf der einen Seite wird der Untersuchungsgegenstand, die Orthografie, durch den Einsatz neuer, digitaler Kommunikationsmittel erheblich beeinflusst, da sich Schreibgewohnheiten und Schreibgebrauch durch neue Medien zu verändern scheinen. Auf der anderen Seite steht eine Untersuchungsmethodologie, die ohne die Erarbeitung eines innovativen informatischen Methodeninventars nicht umsetzbar wäre. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die Beobachtung des Schreibgebrauchs bisher kein Forschungsgebiet in den Digital Humanities bildet – eine Lücke, die das Projekt zu schließen versucht.

Ein weiteres Forschungsfeld ergibt sich auch hinsichtlich von Aufgabenstellungen aus der Lexikografie. So dienen die im Projekt entwickelten Verfahren der Neologismusforschung, z.B. zur Findung neuer Wortschöpfungen oder zur Beobachtung des Schreibwandels, und können im Rahmen korpusbasierter Fremdwortforschung die Integration von Fremdwörtern in den deutschen Wortschatz beschreiben. Ferner ergeben sich neue Fragestellungen in korpusbasierten Wortschatz-, Stil- und Grammatikanalysen mit synchroner, diachroner oder soziolinguistischer Zielsetzung. Die sprachtechnologische Basis der E-Humanities erweitert sich somit um die Weiterentwicklung von sprachtechnologischen Standardwerkzeugen wie der Lemmatisierung, dem Wortart-Tagging sowie der flachen syntaktischen Analyse.

Die hier aufgeworfenen Fragestellungen tragen zudem dazu bei, Konzepte und Instrumentarien sowie innovative korpuslinguistische und sprachtechnologische Methoden für eine weiter gehende wissenschaftliche Nutzung bereitzustellen. Hier liegt ein weites Anwendungsfeld im Bereich des Informationsmanagements vor (Web-Suchmaschinen, Dokumentklassifikation, „Opinion Mining“).

Kollokations- und Kontextanalysen als Grundlage für Auswertungen vor allem im Bereich Getrennt- und Zusammenschreibung und Groß- und Kleinschreibung sowie eine Erarbeitung von Paradigmen für die langfristige Schreibbeobachtung auch im Hinblick auf vergleichende Analysen z.B. im Bereich Schule ergänzen das anzubietende Instrumentarium. Unter Hinzuziehung extensiver und intensiver Korpusanalysen mit differenzierter Auswertung werden auch der österreichische und schweizerische Sprachraum angemessen berücksichtigt.

Schließlich werden dem Rat für deutsche Rechtschreibung Vorschläge zur Anpassung des amtlichen Regelwerks auf der Basis von Auswertungen eines Abgleichs der Schreibgebrauchsbeobachtungen mit normgerechten grammatischen und orthografischen Regularitäten erarbeitet.

Die aufgebaute Infrastruktur kann vom Rat für Deutsche Rechtschreibung auch nach Projektende aktiv zur Rechtschreibbeobachtung eingesetzt werden, so dass die Ergebnisse in Weiterentwicklungen des amtlichen Regelwerks und in Publikationen zur Rechtschreibung umgesetzt werden können. Weiteres Ziel ist eine Übernahme der erarbeiteten Methodologien aus der Korpuslinguistik und den E-Humanities durch die Verlagsunternehmen. Durch diese Transferziele wird die Verwertung der Projektergebnisse auch außerhalb der wissenschaftlichen Nutzerkreise gewährleistet.